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„Es war ein Heimkommen.“

Kreisanzeiger vom 22.03.2016Foto: Lenz

BÜDINGEN – Der Bildungsetat des Landes Hessen reicht nicht für die gestiegenen Ansprüche, die an die Schulen gestellt werden, sagt Dr. Anne Zingrosch. Seit sieben Wochen ist sie Rektorin des Wolfgang-Ernst-Gymnasiums. Im Interview mit dem Kreis-Anzeiger spricht sie über eine pädagogisch sinnvolle Entschleunigung, die Auswirkungen der Stellenkürzungen und das Ziel, Quereinsteigern die Oberstufe am Büdinger Gymnasium schmackhaft zu machen.

In diesen Tagen finden die Abiturprüfungen statt, die ersten für Sie als Rektorin des Wolfgang-Ernst-Gymnasiums. Wie empfinden Sie das?

Die Gesamtverantwortung liegt nun bei mir, das ist schon etwas anderes. Doch ich habe ein unglaublich gutes Team, auf das ich bauen kann. Das Schulleitungsteam und Kollegium vermitteln mir trotz dieser Verantwortung immer den Eindruck, dass wir das gemeinsam tragen.

Der Übergang von Nidda zum Gymnasium in Büdingen geschah nahtlos. Wie waren die ersten Tage?

Es war ein Heimkommen. Aber natürlich waren die ersten Tage turbulent. Auch jetzt, nach den ersten sechs Wochen, bin ich immer noch in der Einarbeitung. Die Aufgabenfelder sind zum Teil andere als in einer stellvertretenden Position. Und diese lerne ich jetzt kennen. Das war im Voraus nicht möglich, weil sich die Schulen unterscheiden. Das Wolfgang-Ernst-Gymnasium ist selbstständige Schule, Nidda dagegen hat das kleine Schulbudget.

Gab es eine einschneidende Erfahrung?

Ja, dass ab dem 1. April unsere Schulsozialarbeiterin nicht mehr da sein wird. Mira Weiß hinterlässt eine große Lücke. Es liegt jetzt in unserer Verantwortung, dies aufzufangen. Die Schulsozialarbeit ist eine unglaublich gute Sache, und der Bedarf ist vorhanden. Die Stelle wird nun neu ausgeschrieben. Die Neubesetzung kann allerdings bis nach den Sommerferien dauern.

Sie haben etwa 1000 Schüler und eine Stelle für die Schulsozialarbeit. Reicht das?

Wir haben zusätzlich zur Schulsozialarbeit den „Wendepunkt“. Das ist ein Team aus Schülern, Lehrern und Eltern, das in schwierigen Situationen interveniert und behutsam mediiert. Zudem ist Matthias Fischer seit dem 1. Februar bei uns als Schulpfarrer tätig. Darüber hinaus hat uns die Schulsozialarbeiterin der benachbarten Schule am Dohlberg für die Übergangszeit ihre Unterstützung zugesagt. Wir haben ein enges Netzwerk geschaffen.

Die Anzahl der Schüler am Gymnasium ist von 1400 auf 1000 zurückgegangen. Welche Auswirkungen hat das?

Die Stellenzuweisung erfolgt nach den Schülerzahlen. Das ist die Vorgabe für die Verwaltung. Es hat zur Folge, dass sich das Kollegium verändert. Bisher ist es gelungen, niemanden wegen sinkender Schülerzahlen abordnen zu müssen. Wir werden auch im nächsten Schuljahr fünf fünfte Klassen haben. Bisher gibt es 135 Anmeldungen. Andererseits nehmen wir in der Oberstufe extrem wenig externe Schüler auf. Das müssen wir in den nächsten Jahren versuchen zu ändern. Ein Wechsel zu uns kann nach Abschluss der Realschule oder auch von einer Gesamtschule passieren.

Also versuchen Sie, das Abwandern der Schüler von Büdingen nach Konradsdorf in den vergangenen Jahren wieder umzukehren?

Ja (lacht). Es ist vielleicht die etwas tradierte Haltung, die wir in den nächsten Jahren ändern sollten. Es geht um die Steigerung unserer Attraktivität. Wir sollten über den Beginn einer zweiten Fremdsprache mit Beginn der Einführungsphase der Oberstufe, also der Klasse elf, nachdenken. Das ist bisher nicht etabliert, ist aber notwendig, wenn man Schüler aus der Realschule aufnimmt. Ihnen fehlt unter Umständen noch eine zweite Fremdsprache.

Wie kann man die Attraktivität für die Jüngeren steigern?

Für die Fünftklässer sind wir durchaus attraktiv. Nach dem „Tag der offenen Tür“ haben wir viele positive Rückmeldungen bekommen. Das Wolfgang-Ernst-Gymnasium hat ein neues, freundliches Gebäude und unheimlich nette Lehrer mit grandioser Haltung zu ihrem Beruf und zu notwendigen Entwicklungen, worüber ich mich sehr freue. Die herzliche Atmosphäre hat offensichtlich viel Eindruck hinterlassen. Über die „AG Ankommen“ befinden wir uns im steten Kontakt mit den Grundschulen und erarbeiten im Moment sogenannte Übergangsprofile, um die Kinder tatsächlich dort abzuholen, wo sie im Moment stehen. Unsere Unterstufe bietet zudem ein Französisch- und ein Musikprofil.

Die Rückkehr vom Turbo-Abi auf G9 wurde von Bildungspolitikern als Allheilmittel infrage gestellt. Wie sehen Sie das?

Ob G8 oder G9 – diese Entscheidung ist zunächst ein Politikum und kein pädagogisches Konzept. Den Schulen in Hessen wurde damals verhältnismäßig unsanft die G8-Regelung vorgeben. Dann gab es plötzlich wieder die Möglichkeit, zu G9 zurückzukehren. Im Umkreis von Büdingen haben die Gesamtschulen und Gymnasien der Reihe nach diese Umwandlung zeitnah vollzogen. Büdingen hat es erst im letzten Jahr getan. Wir waren durchaus auch von G8 überzeugt. G9 wird bei vielen mit Entschleunigung in Zusammenhang gebracht und verkürzt die Unterrichtstage, sodass die Schüler wieder mehr Zeit für Hobbys haben. Eine Entschleunigung, die nicht pädagogisch sinnvoll gefüllt ist, ist allerdings sinnlos. Wir haben unsere Kompetenzraster und Fachcurricula entsprechend angepasst.

Ist die Differenz von 400 Schülern auf die späte Rückkehr zu G9 zurückzuführen?

Das ist weniger der G8-Diskussion als vielmehr dem demografischen Wandel geschuldet. Es gibt insgesamt deutlich weniger Schüler.

Das Kultusministerium will Stellen verschieben. Inwieweit betrifft Sie das?

Es trifft uns nur in der gymnasialen Oberstufe. An der Stabilität der Lehrerzuweisung in der Sekundarstufe I ändert sich nichts. Leider werden in der Sekundarstufe II die Kurse vergrößert.

Es wurde kritisiert, dass die Berechnung der Kurse durch das Ministerium unrealistisch sei…

Sehr große Kurse sind schwierig zu unterrichten. Angesichts der zu vermittelnden Stofffülle und der Abiturvorbereitung sind Kurse mit 24 beziehungsweise 25 Schülern groß genug. Der verschlechterte Schülerfaktor zur Berechnung der Zuweisung kann dazu führen, dass in der Zukunft sogenannte Kombikurse entstehen, also Grund- und Leistungskurse zusammengelegt werden. Das ist grundsätzlich nichts Schlechtes und erhält ein vielfältiges Leistungskursangebot.

Mit 3,6 Milliarden Euro für die Bildung sei ein historischer Höchststand erreicht, argumentiert das Hessische Kultusministerium. Reicht der nicht aus?

Angesichts der gestiegenen Ansprüche, nein. Und mit einer Umschichtung der Stellen wird den neuen Aufgaben an den Schulen nicht Rechnung getragen. Die Politik verleitet hier zu der bedenklichen Argumentation, dass auf Kosten der Oberstufe Inklusion betrieben wird. Dieser Gedanke ist hoch gefährlich und ich lehne ihn ab. Inklusion ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit, die es zu unterstützen und zu fördern gilt.

Lernen, Abrufen, Vergessen. Hat diese Art des Lernens zugenommen?

Das nehme ich so nicht wahr. Es hängt davon ab, wie Kinder von klein auf das Lernen gelernt haben. Wir arbeiten permanent an diesem Thema. Unter Berücksichtigung der verschiedenen Lerntypen lernen Kinder bei uns das Lernen. Oft findet Erlerntes nicht den Weg ins Kurz- oder Langzeitgedächtnis. Das geschieht übrigens ganz unabhängig von G8 oder G9.

Welchen Tipp haben Sie für die Eltern?

Menschen lernen das ganze Leben lang. Wenn die Schüler in der Schule erfolgreich sind, kann die Lernmethode so falsch nicht sein. Ich kenne jede Menge Abiturienten, die mit ihrer in Schule erworbenen Haltung zum Lernen an der Uni an ihre Grenzen gestoßen sind und dann ihre Lernstrategie umgestellt haben.

Welche Ziele haben Sie sich für die nächsten Jahre am vorgenommen?

Konkrete Ziele kann ich Ihnen nicht nennen. Schüler und Eltern verändern sich und Schule muss es auch. Daran müssen die Schulleitung und das Kollegium arbeiten. Im Moment höre ich einfach nur zu. Wo laufen Unterricht oder außerunterrichtliche Dinge besonders gut und gewinnbringend? Wo wird Unterstützung benötigt? Wo gibt es Wünsche und Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung? Welche Bedürfnisse haben unsere Schüler? Ich habe zum Beispiel im regelmäßigen Abstand Treffen mit der Schülervertretung, um auch diese Sichtweise kennenzulernen. Meine daraus resultierenden Ideen werde ich in einer der Sitzungen im Sommer mit dem Team besprechen. Wir können eine Schule nur dann entwickeln, wenn wir einen hohen Anteil Kollegen haben, die bereit sind, das mitzutragen. Ansonsten kann ich die Ziele nicht nachhaltig und langfristig umsetzen. Heute eingeführt, morgen abgeschafft – das geht nicht.

Wann widmen Sie sich wieder Ihrer Leidenschaft, dem Theaterspiel?

Angesichts der Einarbeitung bleibt leider noch keine Zeit. Daher hoffe ich auf das Kalenderjahr 2017.

ZUR PERSON Anne Zingrosch ist in Bad Nauheim geboren. 1990 absolvierte sie ihr Abitur am Wolfgang-Ernst-Gymnasium, studierte in Gießen Deutsch und Religion und arbeitete schließlich als Lehrerin in Büdingen. Nachdem sie die stellvertretende Schulleitung am Gymnasium in Nidda übernommen hatte, trat die Studiendirektorin am 1. Februar die Stelle der Rektorin am WEG an. (myl)

Confidentia in futurum