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Gedenkveranstaltung im Historischen Rathaus

Kreisanzeiger vom 11.11.2016

BÜDINGEN – (myl/ Foto: Krinke). 149 Kerzen in Gläsern flackerten in dem kleinen Garten zwischen dem ehemaligen Amtsgericht und dem Steinernen Haus in der Schlossgasse. Auf den Gläsern waren die Namen von 149 Büdinger Bürgern mit jüdischen Wurzeln geschrieben, die bis zur Machtergreifung Hitlers 1933 in der Stadt wohnten. Mit diesem Jahr begann ein Leidensweg, der in der Pogromnacht zum 10. November 1938 seinen dramatischen Höhepunkt erfuhr. Zu einer Gedenkveranstaltung hatten das Bündnis für Demokratie und Vielfalt und der Büdinger Geschichtsverein unter Mitwirkung des Wolfgang-Ernst-Gymnasiums und des Kinder- und Jugendbeirats eingeladen.

 „Dem Erinnern einen Namen geben“, lautete der Untertitel der Veranstaltung. Die Gäste lauschten den Reden von Pfarrer Andreas Weik und Sieglinde Huxhorn-Engler. Klezmer-Klänge des Ensembles Orchestreon Odeon unterstrichen die Ausführungen, standen für religiöse Traditionen. Vielleicht 100 Meter entfernt, in der Schlossgasse 9, hatte Jettchen Hirschmann mit ihrem gelähmten Mann gewohnt. Am Nachmittag des 10. Novembers 1938 stürmten junge Burschen ins Haus, verwüsteten es und stießen beide die Treppe herunter. Ein Metzgergeselle, der zufällig dazu kam, fasste die fast 60-Jährige und trieb sie etwa 300 Meter durch die Menge, trat sie mit seinen Stiefeln. „Es gab Zuschauer, aber keiner half“, zitierte Sieglinde Huxhorn-Engler aus den Geschichtsaufzeichnungen Willi Luhs.

In den Aufzeichnungen des ehemaligen Vorsitzenden des Geschichtsvereins und Büdinger Ehrenbürgers ist auch von einer Gerichtsverhandlung vor dem Landgericht Gießen am 6. Oktober 1949 zu lesen. Der damalige Bürgermeister Emil Diemer wurde zu den ersten kreisweiten Ausschreitungen gegen die jüdischen Bürger am 15. März 1933 in Büdingen befragt. Seine Aussage, von weiteren Übergriffen nichts gewusst zu haben, lassen Fragen offen, da er – das ist in den Aufzeichnungen Luhs nachzulesen – eine Liste von der SA mit Namen jüdischer Bürger erhalten hatte, die noch an diesem Abend aufgesucht werden sollten. Zeitgleich wurden zahlreiche Juden im Saalbau Schäfer in der Düdelsheimer Straße wie Vieh zusammengetrieben und misshandelt. Jettchen Hirschmann ließ sich auf eigenen Wunsch ins Gefängnis des Amtsgerichts bringen. Zwischen den dunklen, kalten Mauern fühlte sie sich sicherer. Sicher? Die Jugendlichen des Kinder- und Jugendbeirats verlasen 34 Namen und Geschichten von Personen, die in Vernichtungslagern der Nationalsozialisten umgekommen sind.

Zum zweiten Teil der Veranstaltung liefen die Gäste ins Historische Rathaus. Polizeistreifen fuhren mehrere Male durch die Altstadt. Joachim Cott, Vorsitzender des Geschichtsvereins, begrüßte unter anderem SPD-Landtagsabgeordnete Lisa Gnadl, die ehrenamtliche SPD-Kreisbeigeordnete Brigitte Dietz in Vertretung von Landrat Joachim Arnold, Bürgermeister Erich Spamer, Erste Stadträtin Henrike Strauch, Dr. Anne Zingrosch, Direktorin des Wolfgang-Ernst-Gymnasiums, und Andreas Balser von der Antifaschistischen Bildungsinitiative aus Friedberg.

Der 9. November 1938 sei der Auftakt zu einer industriellen Massenvernichtung gewesen, fasste Cott zusammen. „Was den Juden angetan wurde, darf nicht in Vergessenheit geraten.“ 70 Jahre später seien fremdenfeindliche Aktionen wieder an der Tagesordnung. Der Stellenwert der Erinnerungstage verändere sich. „Wir alle müssen dem Antisemitismus entgegentreten.“ Der Widerstand gegen „rechte Rattenfänger“ nannte Cott „eine Konsequenz aus der Pogromnacht“.

Ein Lernprozess aus der Geschichte finde nicht statt, resümierte Bürgermeister Erich Spamer. Er verwies auf die Geschehnisse in der Türkei, deren Machthaber Tausende Menschen verfolgen und die Justiz gleichschalten würden. „Haben wir das nicht schon einmal erlebt? Was für ein Hohn, wenn die Politik droht, die Beitrittsverhandlungen zur EU abzubrechen. Die Welt schweigt so lange, bis die Schergen ihr Handwerk vollbracht haben.“ Folgerichtig müsse darüber nachgedacht werden, ob ein Gedenktag überhaupt noch einen Beitrag leisten könne.

Es sei die große Aufgabe der Gesellschaft, sagte Boris Winter vom Bündnis für Demokratie und Vielfalt, der durch den Abend führte, Menschen, die sich abgehängt fühlten, wieder den Weg in die Gesellschaft zu weisen. Von ihnen war an diesem Abend wohl kaum jemand da. Zweifellos waren Bürger versammelt, die die politischen Zusammenhänge vor Augen hatten. Man war unter sich, die Anzahl der politischen Mandatsträger war überschaubar.

Eindrucksvoll präsentierten Johannes Ruppert und Niclas Niederwieser vom Wolfgang-Ernst-Gymnasium ihr preisgekröntes Projekt „Augen auf – Rassismus schläft nicht“. Viele Beiträge, Filmvorträge, Lesungen, Teilnahmen an themenbezogenen Veranstaltungen, Infostände und Studienfahrten sind wichtige Beiträge zur Aufklärung der Schüler.

Confidentia in futurum